Einspruch II

2001
Short film 7 min, 35mm

by Rolando Colla, with Waléra Kanischtscheff, Sara Capretti Original version in Russian
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Director Statement
Director's Statement (german only)
Am 26. Oktober 2000 hat sich im Zürcher Hautbahnhof ein georgischer Flüchtling mit Benzin übergossen und angezündet. Er kam mit dem Leben davon, lag aber wochenlang auf der Notfallstation. Zeugen berichteten, er habe den Grund seiner Aktion auf einer Tafel mitgeteilt, aber die Polizei wollte den Wortlaut nicht bekanntgeben. Von den Behörden wurde der Fall heruntergespielt, als Tat eines Verrückten. Jeder, glaube ich, egal wie verrückt er ist, macht einen Suizidversuch in einer Situation, aus der er keinen Ausweg mehr sieht. Und für diese Situation ist er nicht nur selber verantwortlich. Wir, das heisst die Gesellschaft, unsere sozialen und politischen Verhältnisse, unsere Gesetze, unsere Mentalität, unsere Unmenschlichkeit, das alles ist mitverantwortlich. Zwei Wochen nach diesem Selbstverbrennungsversuch traf ich eine russische Studentin, die zufällig am besagten Tag im Hauptbahnhof gewesen war und mir sagte, auf der Tafel habe gestanden: Ich protestiere gegen meine Ausweisung, ich sehe keinen Ausweg mehr. "Einspruch II" erzählt eine fiktive Geschichte. Es ist die Geschichte eines Flüchtlings, der einen eingeschriebenen Brief erhält. Darin steht sein Ausreisedatum. In Anlehnung an den Georgier beschliesst der Mann, sich selbst in der Öffentlichkeit zu verbrennen, doch er tut dies in einer Telefonkabine, die er mit einer Eisenstange verriegelt, so kann er nicht gerettet werden. Das Schlussbild mit der verschlossenen Telefonkabine ist ein Bild für unsere Apathie und Gleichgültigkeit Flüchtlingen gegenüber. Ich wollte mit "Einspruch II" den Zuschauer möglichst nah zu dieser Figur heranführen und den Schmerz spürbar machen, der hinter seiner Wahnsinns-Tat steht.
So erklärt sich der Off-Text, der über den Film gelegt ist: Glück und Unglück kommen, wann es ihnen passt. Hör auf, nach einem Grund zu suchen. Es gibt keinen Grund. Wahrscheinlich steht im Brief: Verschwinde. Bis dann und dann musst du die Schweiz verlassen. Es steht nicht: Wir wissen, wie man sich fühlt, wenn man verschwinden muss. Rettungslos verloren. Das ist dein Befund. Rettungslos verloren. Ich habe schon ewig keine Schmetterlinge mehr gefangen. Ich weiss nicht, warum mir das jetzt in den Sinn kommt. Wahrscheinlich träume ich davon, dass ein Schmetterling zu mir fliegt, und ich renne ihm nach, verirre mich und komme nie wieder in diese Welt zurück. Mir geht dieser Georgier nicht aus dem Kopf. Es war der 26. Oktober 2000. 18 Uhr 15. Hier in Zürich. Man glaubte ihm seine Geschichte nicht, die voller Widersprüche war. Aylgesuch abgelehnt. Er hat sich angezündet, damit jeder versteht, dass er ein Mensch ist und kein Ungeziefer. Auf einer Schreibtafel stand: Ich weiss keinen Ausweg mehr. Er wollte, dass die Leute sich in ihn hineinversetzen. Wer will das nicht? Ich gebe es zu: Die Frau in der Drogerie gefällt mir. Sie erinnert mich an jemand. Ich möchte ihr sagen, dass ich sie liebe. Dass sie mich retten muss. Retten wovor? Vor mir selbst. Ich möchte ja nur leben wie alle leben. Warum trifft das, was wir am meisten befürchten, fast immer ein? Hör endlich auf, nach einem Grund zu suchen. Da ist diese idiotische Angst zurückzukehren und hinter Gittern zu verrecken wie ein Kakerlak. Wer soll das verstehen? Ich verstehe es ja selber nicht. Dem Irrsinn freien Lauf lassen. Endlich die Kontrolle verlieren. Grausam sein. Die Leute in den Magen treten. Ich spucke in alle glücklichen Gesichter. Ich gehe, aber nicht still und leise. Diesen Gefallen tu ich euch nicht.
Rolando Colla